Aktuelles
Die Migränespritze
April 2019 – Oktober 2022
Für Patienten mit chronischer Migräne gibt es neue Präparate zur Prophylaxe, die mit großen Hoffnungen erwartet und mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht sind.
Es sind dies Spritzen mit Antikörpern gegen sogenannte Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) oder deren Rezeptoren. CGRPs kommen im Zentralnervensystem vor und gehören dort zu den am stärksten Gefäß relaxierenden, also erweiternden Substanzen. Im Bereich der Kranialarterien verschlimmern sie vermutlich entzündungsunterstützend den Ablauf der Migräne.
Von den Spritzen wird erwartet, dass sie eine vorbeugend antientzündliche Wirkung haben und dadurch die Anzahl der Migränetage pro Jahr reduzieren. Sie wirken vorbeugend, sind also nicht für den Akutfall gedacht!
Die Spritzen können im Bedarfsfall vom Neurologen zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden und der Patient spritzt sie sich dann in der Regel selbst einmal pro Monat subkutan in den Bauch oder den Oberschenkel.
Wirksamkeitsnachweise wurden bisher fast ausschließlich über sehr kurze Dokumentationsphasen von nur 3 oder 6 Monaten erbracht. Wie sich in zahlreichen anderen Therapieformen der Migräne gezeigt hat, ist der Placeboeffekt umso größer, desto kürzer die Anwendungsphase ist. In der Regel liegt er bei Migräne bei rund 30 Prozent!
Die Behandlungskosten für die neuen Spritzen liegen pro Patienten im Jahr je nach Dosis zwischen 8.000 und 16.000 Euro und stoßen damit in bisher unbekannt hohe Dimensionen. Angemessen, wie die herstellenden Firmen meinen, da es sich um neue Substanzgruppen handelt, die mit hohen Entwicklungskosten verbunden sind.
Unangemessen und nicht kosteneffektiv meinen die Verantwortlichen im britischen Gesundheitssystem von NICE und versagen einem Präparat wie Aimovig von Novartis die Zulassung bzw. Kostenübernahme.
Man könnte meinen, die armen Briten müssten halt aufs Geld schauen, aber auch so kann Verantwortung für die gemeinsamen Ressourcen aussehen.
In Deutschland sind die meisten meinungsbildenden Neurologen auf ihren Vorträgen davon begeistert, dass die neuen Prophylaxemittel so viel weniger Nebenwirkungen haben als die von ihnen selbst zuvor beworbenen Präparate, wie Botox oder Topiramat (Topamax). Das ist wohl wahr aber auch diesen Behandlungsansätzen konnten ich und die meisten unserer Patienten noch nie viel Positives abgewinnen. (Siehe auch entsprechende Beiträge auf migraenekur.de – „Topamax-Migräne“).
Befürworter eines multimodalen Therapiekonzeptes zeigen kein Verständnis dafür das mit dem Einsatz der neuen Antikörpertherapien eine mit nichts zu vertretende Umverteilung der aufzuwendenden Geldmittel (Jahrestherapiekosten) in deren Gebiet von bis über 95% erfolgt, so, als wäre alle andere geleistete und unbedingt erforderliche Arbeit ohne Wert!
Während bei den persönlich erbrachten Leistungen der Therapeuten eine rigide Kontrolle vonseiten der KV erfolgt, wird auf der anderen Seite das Geld mit vollen Händen in fragwürdige medikamentöse Maßnahmen geschüttet.
Da bin ich dann schon eher bei den Briten!
Oktober 2022
Es gibt Neuerungen:
Eine Vergleichsstudie – HER-MES - ergab, dass Aimovig (Erenumab) im Vergleich zu Topiramat als Prophylaxe in der Migränetherapie von Erwachsenen besser abschneidet und weniger Nebenwirkungen aufweist.
Volle Erstattungsfähigkeit auch ohne die zuvor erforderliche frustrane Vortherapie mit anderen Prophylaktika wie z.B. Metoprolol wird nach Bewertung durch den G-BA (gemeinsamer Bundesausschuss) gestattet.
Welch ein Erfolg für die Hersteller dieses extrem teuren Präparates und deren clevere Lobby und welch eine Niederlage für uns Kassen-Beitragszahler!
1. Topiramat, ursprünglich ein Antiepileptikum mit appetitzügelnder Begleitwirkung ist in seinem Anspruch als Migräne-Prophylaktikum Bahnbrechendes zu leisten nach seinem Start 2005 krachend gescheitert. Kein anderes Präparat hat so zahlreiche und unangenehme Nebenwirkungen wie Topamax-Migräne. Sensibilitätsstörungen und Störung der Hirnleistung fallen besonders auf. Eine meiner Patientinnen erklärte z.B., dass sie nach Einnahme nicht mehr in der Lage gewesen wäre, ihre eigene Waschmaschine zu bedienen…
Wer auch immer seinem Präparat einen Vergleichspartner in Bezug auf das günstigere Wirkungs-Nebenwirkungsverhältnis gegenüberstellen möchte: Mit Topiramat stehen die Chancen erfolgreich abzuschneiden fast immer bestens!
2. Die Anwendungsbeobachtung erfolgte über eine Zeitdauer von mindestens 12 Wochen, das heißt eigentlich nur 12 Wochen oder mehr. Für die meisten Migränefachleute stellt sich die wirkliche Prophylaxe-Wirkung erst nach einem Einsatz von über 6 Monaten heraus, da zuvor die Placebo-Wirkung gerade bei Migräne-Patienten sehr hoch, nämlich wie oben erwähnt bei ca. 30% liegt! Vermutlich könnte die Vergleichsstudie aber auch nicht über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden, da der „Topiramat-Studienarm“ wegen intolerabler Nebenwirkungen zu viele Studienabbrüche zu verzeichnen hätte.
Fazit: Untaugliche Vergleichsstudie gegen ein inzwischen „angeschlagenes Nischenpräparat“ mit viel zu kurzer Beobachtungszeit.
Aber noch viel schlimmer ist die Beurteilung durch den G-BA, mit einem voraussichtlichen Abermillionen Schaden für die Kassen!